Meinen Vorsatz unnötige Parataxe zu vermeiden, konnte ich ganz offensichtlich immer noch nicht umsetzen.
Es ist Mittwoch, der 11. Dezember. Ich liege auf einem weißen Ledersessel in einem kühl beleuchteten Raum. Mein Blick ist auf eine grelle Hallogenlampe gerichtet, durch die ich zu erblinden drohe. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, um mein Augenlicht nicht gänzlich zu verlieren. Es dauert eine Weile, bis sich die weißen Flecken aus meiner Sicht entfernt haben und ich wieder klar sehen kann. Ich blicke auf einen vollgeladenen, weißen Tisch und schnappe nach Luft. Ein Sammelsurium von Folterinstrumenten erstreckt sich über die Tischplatte. Schneidehaken in allen erdenklichen Größen, spitze Drähte, runde Klemmen und Zangen, Skalpelle und andere kleine Messerchen.
Was für Euch wie die einleitende Darstellung eines zweitklassigen Splatterfilms klingt, ist für mich bittere Realität. Ich sitze beim Zahnarzt.
An dieser Stelle ein kleiner werbender Einschub: Mein Zahnarzt ist großartig! Groß, südländisch, wahnsinnig charmant, weiche Hände und ein ebenso herzerwärmendes Lächeln, bei dem Frau dahin schmilzt. Jede meiner Behandlungen lief reibungslos ab und nie hatte ich Schmerzen. (Mein Zahnarzt wäre durch diese Beschreibung sicher geschmeichelt, aber vielleicht nicht angetan davon, dass ich ihn so im Internet darstelle, also spare ich seinen Namen aus. Wer jedoch zufällig in Düsseldorf wohnhaft ist, zufällig auch weiß wo das Klemensviertel in Kaiserswerth liegt und ganz zufällig schon mal in dem Tunnel unter der großen Turmuhr war, der ist der Praxis meines lieben Zahnarztes schon verdammt nah).
Zurück zu meinem Aufenthalt in der Folterkammer respektive Zahnarztpraxis. Nach meiner Behandlung (den Teil spare ich nun ebenfalls großzügig aus) schüttelte ich meinem Arzt so gut es gerade ging, lächelnd, die weiche Hand und verließ die Praxis. Ich hatte den Termin also endlich hinter mir und machte mich nun mit taubem Gefühl im Mund auf den Weg nach Hause. Wer einmal eine örtliche Betäubung beim Zahnarzt erhalten hat, weiß wovon ich rede. Meine Zunge fühlte sich nicht mehr an wie meine Zunge, sondern wie irgendein glitschiger Fremdkörper, der sich entschieden hatte in meinem Mundraum abzuhängen. Auch meine Lippen spürte ich nicht mehr. Dies hatte zur Folge, dass ich für die ersten zwei Stunden in ein verstörendes, schiefes Dauergrinsen verfiel. Jeglicher Kontrollversuch über meine Gesichtsmuskulatur blieb erfolglos.
Schief grinsend kam ich also Zuhause an und beschloss mich hinzulegen. Ich hatte am späten Nachmittag noch einen Termin in der Uni und wollte bis dahin ich meinen Mund wieder im Griff haben. Mit geöffneten Augen lag ich im Bett und merkte schnell, aus Schlaf wird nun nichts. Ich hatte einen wahnsinnigen Heißhunger. Natürlich müssen einem sämtliche Pizza-Hut Prospekte und McDonalds-Gutscheine dann in die Hände fallen, wenn man gerade eine örtliche Betäubung im Mund hinter sich hat.
Entgegen aller Vorsätze und Ratschläge meines Arztes trottete ich in die Küche und schmierte mir ein Brötchen. Hätte mir jemand in den nächsten Augenblicken beim Essen zugesehen, wäre er vor Lachen wahrscheinlich umgekommen.
Ich muss gekaut haben wie eine Kuh. Nichts für ungut, ich liebe Kühe! Es gibt meiner Meinung nach kein Tier, dass mehr Ruhe und Liebe ausstrahlt, als eine Kuh. Aber wer einmal eine Kuh hat kauen sehen, der weiß was ich meine. Dieses schrecklich, quälend langsame Zermalmen, bei dem Ober- und Unterkiefer nicht direkt aufeinander treffen, sondern gemächlich seitlich aneinander reiben. Das folgende Video stellt ein besonders reizendes Exemplar dar, welches meinen vergeblichen Kauversuchen ansatzweise nahe kommt.
Nun saß ich also da, kaute/zermalmte (wie auch immer) mein Brötchen und merkte plötzlich, dass das Brötchen mit einem Mal einen ganz anderen Widerstand aufwies als gewöhnlich. Unbeeindruckt kaute ich weiter. Ich kaute so lange weiter, bis ich bemerkte, dass mein Brötchen komischerweise ganz rot war. Irgendetwas lief hier gewaltig schief.
Der Blick in den Spiegel offenbarte Furchtbares. Ich sah aus, als hätte ich mir gerade Jigsaws Bärenfalle aus dem Mund gerissen oder mich von Stallone höchstpersönlich vermöbeln lassen. Allmählich kamen mir die Worte meines Zahnarztes wieder in den Sinn. Irgendwas hatte er mal erwähnt, von einer Patientin, die sich nach ihrer Behandlung die eigene Lippe abgebissen hatte. Oh je... Ich kann euch beruhigen (oder auch nicht, weiß Gott, wer alles meinen Blog liest) meine Lippe war noch dran. Aber ich war mir relativ sicher, es hätte nicht viel gefehlt und die Sache wäre nicht ganz so gut geendet. Glücklicherweise fühlte ich wegen der Betäubung immer noch nichts, aber ich wusste, dass sich das bald ändern würde.
Den Termin in der Uni (ein Assessment-Center Training) wollte ich dennoch ungern ausfallen lassen. Also wischte ich das Blut ab, kühlte meine Lippe wie ein Weltmeister und hoffte, dass der Schmerz sich in Grenzen halten würde. Nach ca. zwei Stunden konnte ich meine Zunge langsam wieder mein eigen nennen und tastete vorsichtig meine Mundhöhle ab. Das was ich fühlte, fühlte sich hervorragend an (wenn diese Ausführungen in irgendeiner Weise anzüglich wirken - das sollen sie sicher nicht!). Wieder war es aber der Blick in den Spiegel, der mich aufschrecken ließ.
Ich sah aus, als hätte ich eine fiese Schlägerei hinter mir.
(Rocky 6.0)
Irgendwie kam mir das ganze in diesem Moment aber gar nicht mehr so schlimm vor. Ich sah zwar aus als hätte mich jemand übel zugerichtet, doch Schmerzen hatte ich immer noch keine. Diese Gelegenheit musste ich nutzen. Ich meine, wie oft sieht man schon so aus, als hätte man gerade wirklich Schläge kassiert und fühlt sich dabei immer noch pudelwohl? Ich verschickte einige hinreißende Portraits bei Snapchat und jagte all meinen Freunden einen Schrecken ein. Das war aber noch lange nicht genug. Also hüpfte ich erstmal belustigt durch's Haus und erschreckte zunächst meine Mutter und dann meinen Vater mit dem verstörenden Anblick. Ich berichtete beiden von einem furchtbaren Überfall, hinderte sie dann so gerade noch daran die Polizei zu rufen und erzählte ihnen dann zerknirscht die Wahrheit. So weit, so gut. Nun war es aber mittlerweile 15:00 Uhr und um 16:30 Uhr sollte ich pünktlich beim Assessment-Center in der Uni sitzen.
Hastig verabschiedete ich mich also von meinen Eltern, packte meine Tasche und rannte los. An der Haltestelle angekommen merkte ich, dass ich noch immer den fahlen Geschmack von Eisen auf der Zunge hatte und schmiss mir ein Kaugummi ein, ehe ich in die Bahn stieg. Dort entdeckte ich einen Freund von mir - um genau zu sein Karsten W. (Virtuose der Band The Buggs). Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen, begrüßten uns und setzten uns gegenüber voneinander in einen Vierersitz. Wie ich nun so saß und das Gespräch ins Laufen kam, meldete sich leise meine Eitelkeit. Verstohlen blickte ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe an und stellte verärgert fest, dass meine Unterlippe immer noch geschwollen war. Ich versuchte nicht weiter daran zu denken und beobachtete, während ich sprach, wie Karsten mit einem Ring herumspielte und ihn abwechselnd an jedem seiner Finger anprobierte. Keine Chance. Meine Lippe ging mir nicht aus dem Sinn. Einmal bemerkt, konnte ich mich nun auch nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren, sondern versuchte meinen Mund immer wieder unauffällig mit der Hand zu bedecken. Wie unauffällig bzw auffällig dies während des Sprechens gewesen sein muss, kann man sich gut vorstellen. Irgendwann erzählte ich ihm von meinem kleinen Unfall und wir stellten beide lachend fest, dass mein Tag nur noch besser werden konnte. Tja, falsch gedacht.
Unsere Unterhaltung plätscherte so vor sich hin, als Karsten plötzlich inne hielt und verdutzt auf seine Hand sah. Sein Ring steckte auf seinem Daumen und so rot wie der anlief, steckte er offensichtlich fest. Er zog und ruckelte einige Male, doch nichts tat sich. Grinsend sah er mich an und drehte und ruckelte weiter an seinem Ring. Langsam aber sicher, wich ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Hilfsbereit ergriff ich seine Hand und zog vorsichtig am Ring. Nichts tat sich. Mittlerweile fluchte Karsten unaufhörlich. Ich versuchte ihn zu beruhigen und schlug vor, es nochmal zu probieren, während er seine Hand dabei von mir weg zog. Ich packte den Ring und zog, er riss dabei seine Hand schnell zurück. Mit einem leisen Ploppen löste sich der Ring vom Daumen. Er flog in die Luft und fiel auf seinen Schoß. Triumphierend rief ich laut auf. HA!
Scheiße. Keine gute Idee. Mein Mund brannte. Vor Schmerz verzog ich das Gesicht und sah aus dem Augenwinkel wie etwas kleines, weißes in meinen Haaren landete. Während ich vorsichtig meine Unterlippe abtastete und mich vergewisserte, dass sie keinen weiteren Schaden genommen hatte, fragte ich mich wo mein Kaugummi plötzlich abgeblieben war. Dann dämmerte es mir. Ich sah an meinen offenen Haaren hinunter. Strahlend wie ein Stern im dunklen Abendhimmel, klebte die weiße Kaugummikugel auf meinen schwarzen Haarsträhnen.
("Ein Ring sie zu knechten(..)ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden".
Im Nachinein betrachtet eine ganz eindeutige Prophezeihung.
Ein Ring - ganz klar Karstens Ring, ins Dunkel - in mein pechschwarzes Haar, wohin sonst?
ewig zu binden - nichts bindet ewiger, als ein nach nichts
schmeckendes, durchgekautes Kaugummi - Tolkien, Sie orakelndes Genie!)
Entsetzt griff ich hinein und tat genau das, was man in so einer Situation vemutlich auf keinen Fall tun sollte. Ich brach in Panik aus. Während ich fluchend an dem weißen Klumpen zerrte, versuchte Karsten mich zu beruhigen. Dabei brach er immer wieder in schallendes Gelächter aus und fing sich einen bitterbösen Blick nach dem anderen von mir ein. Vermutlich war es mehr als nur ein böser Blick. Der Realitität kommt wohl näher, dass ich ihn, zwischen immer wieder aufkommenden Flüchen gegen das Universum, mit Hasstiraden beschimpfte. Als meine Verzweiflung ihren Höhepunkt erreichte, erhob sich Karsten von seinem Platz und verkündete mitleidig lachend, dass er nun aussteigen müsse. Während er die Bahn verließ, rief ich ihm noch einige Beleidigungen hinterher und sackte auf meinem Sitz zusammen wie ein Häufchen Elend.
Ich war auf dem Weg zu einem Assessment-Center Training, war natürlich wieder einige Minuten zu spät und sah mit meiner Schlägerlippe und dem Kaugummi im Haar aus, als hätte man mich aus der Gosse gezogen. Mein Gesicht wurde heiß, ich kochte vor Wut und mir schossen Tränen in die Augen. Ich muss furchtbar ausgesehen haben. Mittlerweile hatte sich das Kaugummi es richtig gemütlich gemacht und da ich immer wieder hektisch an ihm rumfuchtelte, griff es auch auf die Strähnen über. Schließlich fasste ich mir ein Herz und lief durch den Waggon, um die anderen Fahrgäste nach einer Schere zu fragen. Ich bekam einige mitleidige Blicke, einige tröstende Worte, ein wenig Gelächter, auch ein paar abschätzige Blicke, aber leider keine Schere. Ich war am Arsch.
Wütend sank ich wieder auf meinem Platz zusammen. Durch den Tränenschleier hindurch sah ich wie sich jemand zu mir setzte und fragte, ob er mir helfen könne. Ich rieb mir die Augen und blickte in ein bärtiges, freundliches Gesicht. Nachdem ich meine Situation geschildert hatte, schmunzelte der junge Mann, blickte dann aber wieder ganz ernst und schien nachzudenken. Schließlich setzte er zu sprechen an: "Mit einem Feuerzeug könntest du dir die Haare...Nein, nein. Doch nicht!" Ich horchte auf. Ein Feuerzeug. Natürlich! Auch, wenn ich keinen Gebrauch mehr davon hatte, wusste ich, dass in meiner Tasche irgendwo ein Feuerzeug liegen musste. Ich kramte es hervor und hielt es meinem Gegenüber vor die Nase. Er protestierte, aber ich ließ nicht locker. Schließlich ließ er sich darauf ein, mir zur Seite zu stehen und mich zu "löschen", wenn das Feuerchen auf den Rest meiner Haare überzugreifen drohte. Nur selber rumfackeln wollte er nicht, die Verantwortung sei ihm zu groß.
Als die Bahn die Uni erreichte, sprang ich gleich aus dem Waggon. Ich wollte den Klumpen so schnell es ging loswerden. Während wir uns eine windgeschützte Stelle suchten, fragte mich der junge Mann noch einmal, ob ich das sicher wolle. Anstelle einer Antwort entzündete ich das Feuerzeug und fasste die Strähne oberhalb des Kaugummis. Knisternd zischte die kleine Flamme an meinen Haaren entlang. Ein grässlicher Gestank setzte ein, aber die Strähne brannte nicht durch. Ich entzündete das Feuerzeug erneut, der junge Mann stand bereit, um mich im Falle des Falles zu "löschen". Dieses Mal zischte es deutlich lauter und die Strähne war durchgebrannt. Ich ließ das Feuerzeug sinken und atmete tief durch. Ich war das beschissene Kaugummi endlich los.
An dieser Stelle 10000 Dank an den charmaten Studenten, der mir in dieser wirklich merkwürdigen Situation ungefragt zur Hilfe kam und mir dann in dem im wahrsten Sinne des Wortes "brenzligen" Moment zur Seite stand. Zu dem Augenblick herrschte in meinem Oberstübchen ein Kopfchaos der Superlative und so konnte ich mir leider nicht den Namen meines Helden merken, wenn er ihn denn überhaupt genannt hat (Ich meine mich daran zu erinnern, wie er nebenbei erwähnte, dass er von der FH komme und sich nun mit Freunden zum Lernen in der Uni-Bibliothek treffe). Wie auch immer - Danke!
Nachdem ich nun vom Kaugummi befreit war, rannte ich Richtung Juridicum. Ich hetzte ins Gebäude und stürmte schon beim dritten Versuch ins richtige Zimmer. Einige meiner Kommilitoninnen blickten auf, erkannten mich und lächelten mich freundlich an. Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf, entschuldigte mich beim Leiter des A-C's für die Verspätung und nahm neben einer Studentin des höheren Semesters Platz. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Ich atme einige Male tief durch und versuchte dem Herrn, der unbeirrt weiter vortrug, zuzuhören. Nach einer Weile lehnte sich meine Nachbarin zu mir herüber und flüsterte mir etwas ins Ohr: "Total seltsam, ich bilde mir die ganze Zeit ein, dass hier irgendwas verkohlt riecht! Riechst du das auch?"
Ich erstarrte und schluckte schwer. Gleichzeitig merkte ich, wie mir das Blut erneut in den Kopf schoss und mir schrecklich warm wurde. Ich musste antworten. Hirn an Bea, Hirn an Bea! Reaktion! Ich schüttelte langsam den Kopf, sah sie gequält lächelnd an, zuckte mit den Schultern und antwortete: "Nö du, sorry. Ich riech nichts!"
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