Dienstag, 3. Dezember 2013

Harmonie zur späten Stunde

Es ist Dienstagabend. Eigentlich sollte ich mittlerweile schon längst Zuhause sein, mich wohlig in meine Bettdecke kuscheln und langsam in tiefe Träume versinken. Aber wie so oft in den vergangenen Tagen, hatte mir mein diabolischer Uni-Stundenplan einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nachdem ich mich durch die üblichen Vorlesungen gekämpft und auch meine Tutorien überstanden hatte, erlaubte ich mir noch den Genuss einer herzlich trockenen Stunde italienischen Rechts. Völlig übermüdet und mit nahezu frittiertem Gehirn war ich im Kampf um den Einstieg in die Bahn chancenlos. 

Nirgendwo sonst zwängen sich Menschen derart ehrgeizig, freiwillig auf engsten Raum, um dort für einige kostbare Minuten bei unmenschlicher Hitze und einer penetranten Mischung aus Männerdeo, teurem Frauenparfum und Schweißgeruch, das Leben der Henne in einer Legebatterie nachzuvollziehen. 


Zu kraftraubend scheint mir dieser aussichtslose Kampf um Sitz- oder Stehplatz, also lasse ich Bahn für Bahn an mir vorbeiziehen. Beim Anblick der zusammengedrängten Menschen in den Waggons überkommt mich gleichermaßen Mitleid, als auch Schadenfreude. Ich erkenne einen meiner Kommilitonen der trotz seiner beachtlichen Größe und Breite gnadenlos gegen die Fensterscheibe der Bahn gedrückt wird und kann mir ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Ich knöpfe meinen Mantel bis obenhin zu, ziehe mir meine Mütze noch tiefer ins Gesicht, tippe abwechselnd mit meiner Schuhspitze und der Schuhsohle gegen den roten Sandstein und freue mich über die mir gebotene Beinfreiheit. Der Blick auf die Anzeigetafel raubt mir augenblicklich die Euphorie. 35 Minuten. 35 Minuten bei sibirischen Wetterverhältnissen. Ich seufze auf und bereue es, mich nicht in das Nahkampfkuscheln der Bahn begeben zu haben. Müde schlendere ich zum Wartehäuschen und setze mich auf die eiskalte Bank. Momente wie diese sind es, in denen ich dankbar mein Smartphone hervorhole und mir die Zeit mit kleinen Spielereien vertreibe. Die Zeit vergeht wie im Fluge und ehe ich meinen fünften Sieg in Folge bei Quizduell belächeln kann, fährt meine Bahn auch schon vor. Ich trotte zur Tür, schleppe mich ächzend die Stufen rauf und lasse mich auf einen freien Sitzplatz plumpsen. Als die Bahn sanft ruckelnd losfährt, kann ich mich kaum mehr wach halten. Mehrere Male werden meine Augen schwer und schließlich nicke ich für einige Minuten ein. 


Als ich die Augen wieder öffne, stelle ich verärgert fest, dass ich meine Haltestelle verpasst hab. Welch schöner Feierabend! Zügig verlasse ich die Bahn und mache mich zu Fuß auf den Heimweg. Glücklicherweise sind es bloß zwei Haltestellen, die ich verschlafen hab. Zitternd nestele ich im Gehen mein Smartphone aus der Manteltasche, um der Dunkelheit zumindest etwas entgegenzusetzen. Just in diesem Moment, als habe er nur darauf gewartet in Anspruch genommen zu werden, blinkt mein Akku warnend auf. „Akku schwach. Ladegerät anschließen!“ Ganz großes Kino. Ich beschleunige meinen Schritt und tippe währenddessen geschäftig auf meinem Smartphone herum. Es sind wirr aneinander gereihte Buchstaben, Nachrichten die nie einen Empfänger beglücken oder belästigen werden, sondern allein meiner Nervenberuhigung dienen. 


Für all Jene, die hier stutzig werden: 


Das stupide Einhämmern auf die Tastatur, hat für mich den gleichen, beruhigenden Charakter, wie ein vorgetäuschtes Telefonat in einer dunklen Gasse. Obgleich sich ein Schwerverbrecher weder durch meine Tipperei, noch durch mein Pseudo-Gespräch tatsächlich aufhalten ließe, gibt mir der Gedanke, zumindest scheinbar unmittelbar mit der mobilen Außenwelt verbunden zu sein, eine selige Sicherheit. So laufe ich also beschwingt weiter, stolpere alle paar Schritte über meine eigenen Füße, schaue immer wieder von meinem Display auf und halte den dunklen Gehweg prüfend im Auge. Als ich wieder auf mein Smartphone blicke, sehe ich nur einen tröstenden Lichtschweif und mein Akku gibt schließlich gänzlich den Geist auf. Schöne Scheiße. Nachdem ich ein paar hundert Meter weit, ungebremst, weiter auf mein runtergefahrenes Smartphone eingetippt hab, beschließe ich den Rest des Weges tapfer zu sein und stecke es seufzend zurück in meine Manteltasche. Jetzt erst fällt mir auf, wie dunkel der Weg ist. Gern wüsste ich, wie spät es tatsächlich ist, aber meine warm eingepackten Hände weigern sich noch einmal aus den Manteltaschen hervorzukommen und so kann ich nur schätzen. Vermutlich kurz nach 22 Uhr. Es schaudert mich. Eigentlich habe ich selten Angst davor alleine Heim zu laufen. Eigentlich nie. Aber heute hat der Weg etwas quälend Langes und Unbehagliches.


Leise summe ich eine vertraute Melodie vor mich hin. Singen soll schließlich beschwingen. Tatsächlich fühle ich mich nach einigen Metern mutiger. Aus meinem Summen bilden sich Worte. Flüsternd stimme ich „My Heart Will Go On“ von Celine Dion an. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, warum es genau dieser furchtbare Titel war, für den ich mich entschied, aber in diesem tristen Moment absoluter Einsamkeit schien es mir wohl passend. Ich komme nun mehr richtig in Fahrt. Während ich in eine Seitenstraße abbiege, stimme ich die zweite Strophe an. Von einem Flüsterton kann längst nicht mehr die Rede sein, ich nutze mein volles Lungenvolumen und singe die restliche Furcht weg. Während ich inbrünstig, aber doch bedacht zum heroischen Finale ansetze „Once More..“ ertönt aus dem Gebüsch eine mindestens genauso leidenschaftliche Männerstimme: „.. U Open The Door“ und ergänzt meinen nächtlichen Gesang. Starr vor Schreck bleibe ich abrupt stehen. Was zur Hölle? 


Vor meinen ungläubigen Augen steigt ein Mann mittleren Alters aus dem Gebüsch, zieht seinen Hosenstall zu und legt sich seinen Gürtel an. Ehe ich auf irgendwelche perversen, furchteinflößenden Gedanken kommen kann, wird mir erleichtert klar, dass der Mann gerade seine Blase erleichtert haben muss und es sich hierbei nicht um einen exhibitionistischen Übergriff der besonderen Art handelt. Verschüchtert verstumme ich augenblicklich und der Schrecken weicht einer peinlich berührten Scham. Ich blicke verhohlen auf die seitlich parkenden Autos und laufe langsam weiter. Dem Mann ist die Situation offensichtlich ähnlich unangenehm. Ich beobachte durch die Autoscheiben, wie er etwas orientierungslos herumschlendert. Plötzlich hebt er die Hand und ruft „Sorry! Wollte Sie ja nicht erschrecken, der Refrain kam nur so gut…“ Wenn ich vor Scham rot werden kann, dann bin ich es in diesem Moment. Unsicher drehe ich mich um, presse ein zerknirschtes „Schon gut!“ hervor und biege in einem Mordstempo in die nächste Seitenstraße ab. 


Den Rest des Weges renne ich. Ich renne nicht etwa, weil ich Angst habe - ich renne, weil ich mir davon erhoffe, dass die Situation ein wenig weniger peinlich wird. Als ich keuchend vor meiner Haustür stehe, denke ich mir in alltäglicher Gewohnheit „Einmal blamieren am Tag stärkt den Charakter“ drehe den Schlüssel herum, lache erleichtert und bin endlich angekommen.



(In Titanic-Pose habe ich mich Gott sei Dank nur vor dem geistigen Auge geworfen, 
sonst wäre ich wohl wirklich, wirklich, wirklich vor Scham im Boden versunken...) 

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