Mittwoch, 11. Dezember 2013

Eine fleischige, klebrige Angelegenheit

Gleich vorab: Wer besonders zarten Gemütes ist, sollte diesen Blogeintrag wieder schließen. Heute wird's blutig wie bei Tarantino und nervenaufreibend wie bei Hitchcock. Darüber hinaus ist dieser Blogeintrag auch noch unerträglich lang geworden. Auch, wenn ich mit dieser Einleitung (abgesehen von der Länge) vielleicht minimal, um nicht zu sagen maßlos, übertreibe, fleischig, wie es der Titel besagt, wird es allemal. Dazu kommt,  dass heute mal wieder einer dieser Tage war, an dem ich absolut konkurrenzlos und zweifelsohne den Titel als menschlicher Goofy und Fettnäpfchentreter der Superklasse verteidigen kann.

Meinen Vorsatz unnötige Parataxe zu vermeiden, konnte ich ganz offensichtlich immer noch nicht umsetzen.

Es ist Mittwoch, der 11. Dezember. Ich liege auf einem weißen Ledersessel in einem kühl beleuchteten Raum. Mein Blick ist auf eine grelle Hallogenlampe gerichtet, durch die ich zu erblinden drohe. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, um mein Augenlicht nicht gänzlich zu verlieren. Es dauert eine Weile, bis sich die weißen Flecken aus meiner Sicht entfernt haben und ich wieder klar sehen kann. Ich blicke auf einen vollgeladenen, weißen Tisch und schnappe nach Luft. Ein Sammelsurium von Folterinstrumenten erstreckt sich über die Tischplatte. Schneidehaken in allen erdenklichen Größen, spitze Drähte, runde Klemmen und Zangen, Skalpelle und andere kleine Messerchen.

Was für Euch wie die einleitende Darstellung eines zweitklassigen Splatterfilms klingt, ist für mich bittere Realität. Ich sitze beim Zahnarzt. 

An dieser Stelle ein kleiner werbender Einschub: Mein Zahnarzt ist großartig! Groß, südländisch, wahnsinnig charmant, weiche Hände und ein ebenso herzerwärmendes Lächeln, bei dem Frau dahin schmilzt. Jede meiner Behandlungen lief reibungslos ab und nie hatte ich Schmerzen. (Mein Zahnarzt wäre durch diese Beschreibung sicher geschmeichelt, aber vielleicht nicht angetan davon, dass ich ihn so im Internet darstelle, also spare ich seinen Namen aus. Wer jedoch zufällig in Düsseldorf wohnhaft ist, zufällig auch weiß wo das Klemensviertel in Kaiserswerth liegt und ganz zufällig schon mal in dem Tunnel unter der großen Turmuhr war, der ist der Praxis meines lieben Zahnarztes schon verdammt nah).

Zurück zu meinem Aufenthalt in der Folterkammer respektive Zahnarztpraxis. Nach meiner Behandlung (den Teil spare ich nun ebenfalls großzügig aus) schüttelte ich meinem Arzt so gut es gerade ging, lächelnd, die weiche Hand und verließ die Praxis. Ich hatte den Termin also endlich hinter mir und machte mich nun mit taubem Gefühl im Mund auf den Weg nach Hause. Wer einmal eine örtliche Betäubung beim Zahnarzt erhalten hat, weiß wovon ich rede. Meine Zunge fühlte sich nicht mehr an wie meine Zunge, sondern wie irgendein glitschiger Fremdkörper, der sich entschieden hatte in meinem Mundraum abzuhängen. Auch meine Lippen spürte ich nicht mehr. Dies hatte zur Folge, dass ich für die ersten zwei Stunden in ein verstörendes, schiefes Dauergrinsen verfiel. Jeglicher Kontrollversuch über meine Gesichtsmuskulatur blieb erfolglos.

Schief grinsend kam ich also Zuhause an und beschloss mich hinzulegen. Ich hatte am späten Nachmittag noch einen Termin in der Uni und wollte bis dahin ich meinen Mund wieder im Griff haben. Mit geöffneten Augen lag ich im Bett und merkte schnell, aus Schlaf wird nun nichts. Ich hatte einen wahnsinnigen Heißhunger. Natürlich müssen einem sämtliche Pizza-Hut Prospekte und McDonalds-Gutscheine dann in die Hände fallen, wenn man gerade eine örtliche Betäubung im Mund hinter sich hat.

Entgegen aller Vorsätze und Ratschläge meines Arztes trottete ich in die Küche und schmierte mir ein Brötchen. Hätte mir jemand in den nächsten Augenblicken beim Essen zugesehen, wäre er vor Lachen wahrscheinlich umgekommen.

Ich muss gekaut haben wie eine Kuh. Nichts für ungut, ich liebe Kühe! Es gibt meiner Meinung nach kein Tier, dass mehr Ruhe und Liebe ausstrahlt, als eine Kuh. Aber wer einmal eine Kuh hat kauen sehen, der weiß was ich meine. Dieses schrecklich, quälend langsame Zermalmen, bei dem Ober- und Unterkiefer nicht direkt aufeinander treffen, sondern gemächlich seitlich aneinander reiben. Das folgende Video stellt ein besonders reizendes Exemplar dar, welches meinen vergeblichen Kauversuchen ansatzweise nahe kommt.



                                      


Nun saß ich also da, kaute/zermalmte (wie auch immer) mein Brötchen und merkte plötzlich, dass das Brötchen mit einem Mal einen ganz anderen Widerstand aufwies als gewöhnlich. Unbeeindruckt kaute ich weiter. Ich kaute so lange weiter, bis ich bemerkte, dass mein Brötchen komischerweise ganz rot war. Irgendetwas lief hier gewaltig schief.

Der Blick in den Spiegel offenbarte Furchtbares. Ich sah aus, als hätte ich mir gerade Jigsaws Bärenfalle aus dem Mund gerissen oder mich von Stallone höchstpersönlich vermöbeln lassen. Allmählich kamen mir die Worte meines Zahnarztes wieder in den Sinn. Irgendwas hatte er mal erwähnt, von einer Patientin, die sich nach ihrer Behandlung die eigene Lippe abgebissen hatte. Oh je... Ich kann euch beruhigen (oder auch nicht, weiß Gott, wer alles meinen Blog liest) meine Lippe war noch dran. Aber ich war mir relativ sicher, es hätte nicht viel gefehlt und die Sache wäre nicht ganz so gut geendet. Glücklicherweise fühlte ich wegen der Betäubung immer noch nichts, aber ich wusste, dass sich das bald ändern würde.

Den Termin in der Uni (ein Assessment-Center Training) wollte ich dennoch ungern ausfallen lassen. Also wischte ich das Blut ab, kühlte meine Lippe wie ein Weltmeister und hoffte, dass der Schmerz sich in Grenzen halten würde. Nach ca. zwei Stunden konnte ich meine Zunge langsam wieder mein eigen nennen und tastete vorsichtig meine Mundhöhle ab. Das was ich fühlte, fühlte sich hervorragend an (wenn diese Ausführungen in irgendeiner Weise anzüglich wirken - das sollen sie sicher nicht!). Wieder war es aber der Blick in den Spiegel, der mich aufschrecken ließ.

Ich sah aus, als hätte ich eine fiese Schlägerei hinter mir. 




(Rocky 6.0)


Irgendwie kam mir das ganze in diesem Moment aber gar nicht mehr so schlimm vor. Ich sah zwar aus als hätte mich jemand übel zugerichtet, doch Schmerzen hatte ich immer noch keine. Diese Gelegenheit musste ich nutzen. Ich meine, wie oft sieht man schon so aus, als hätte man gerade wirklich Schläge kassiert und fühlt sich dabei immer noch pudelwohl? Ich verschickte einige hinreißende Portraits bei Snapchat und jagte all meinen Freunden einen Schrecken ein. Das war aber noch lange nicht genug. Also hüpfte ich erstmal belustigt durch's Haus und erschreckte zunächst meine Mutter und dann meinen Vater mit dem verstörenden Anblick. Ich berichtete beiden von einem furchtbaren Überfall, hinderte sie dann so gerade noch daran die Polizei zu rufen und erzählte ihnen dann zerknirscht die Wahrheit. So weit, so gut. Nun war es aber mittlerweile 15:00 Uhr und um 16:30 Uhr sollte ich pünktlich beim Assessment-Center in der Uni sitzen. 

Hastig verabschiedete ich mich also von meinen Eltern, packte meine Tasche und rannte los. An der Haltestelle angekommen merkte ich, dass ich noch immer den fahlen Geschmack von Eisen auf der Zunge hatte und schmiss mir ein Kaugummi ein, ehe ich in die Bahn stieg. Dort entdeckte ich einen Freund von mir - um genau zu sein Karsten W. (Virtuose der Band The Buggs). Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen, begrüßten uns und setzten uns gegenüber voneinander in einen Vierersitz. Wie ich nun so saß und das Gespräch ins Laufen kam, meldete sich leise meine Eitelkeit. Verstohlen blickte ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe an und stellte verärgert fest, dass meine Unterlippe immer noch geschwollen war. Ich versuchte nicht weiter daran zu denken und beobachtete, während ich sprach, wie Karsten mit einem Ring herumspielte und ihn abwechselnd an jedem seiner Finger anprobierte. Keine Chance. Meine Lippe ging mir nicht aus dem Sinn. Einmal bemerkt, konnte ich mich nun auch nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren, sondern versuchte meinen Mund immer wieder unauffällig mit der Hand zu bedecken. Wie unauffällig bzw auffällig dies während des Sprechens gewesen sein muss, kann man sich gut vorstellen. Irgendwann erzählte ich ihm von meinem kleinen Unfall und wir stellten beide lachend fest, dass mein Tag nur noch besser werden konnte. Tja, falsch gedacht.

Unsere Unterhaltung plätscherte so vor sich hin, als Karsten plötzlich inne hielt und verdutzt auf seine Hand sah. Sein Ring steckte auf seinem Daumen und so rot wie der anlief, steckte er offensichtlich fest. Er zog und ruckelte einige Male, doch nichts tat sich. Grinsend sah er mich an und drehte und ruckelte weiter an seinem Ring. Langsam aber sicher, wich ihm das Grinsen aus dem Gesicht. Hilfsbereit ergriff ich seine Hand und zog vorsichtig am Ring. Nichts tat sich. Mittlerweile fluchte Karsten unaufhörlich. Ich versuchte ihn zu beruhigen und schlug vor, es nochmal zu probieren, während er seine Hand dabei von mir weg zog. Ich packte den Ring und zog, er riss dabei seine Hand schnell zurück. Mit einem leisen Ploppen löste sich der Ring vom Daumen. Er flog in die Luft und fiel auf seinen Schoß. Triumphierend rief ich laut auf. HA!

Scheiße. Keine gute Idee. Mein Mund brannte. Vor Schmerz verzog ich das Gesicht und sah aus dem Augenwinkel wie etwas kleines, weißes in meinen Haaren landete. Während ich vorsichtig meine Unterlippe abtastete und mich vergewisserte, dass sie keinen weiteren Schaden genommen hatte, fragte ich mich wo mein Kaugummi plötzlich abgeblieben war. Dann dämmerte es mir. Ich sah an meinen offenen Haaren hinunter. Strahlend wie ein Stern im dunklen Abendhimmel, klebte die weiße Kaugummikugel auf meinen schwarzen Haarsträhnen.
    
                                
       ("Ein Ring sie zu knechten(..)ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden". 
                       Im Nachinein betrachtet eine ganz eindeutige Prophezeihung.
   Ein Ring - ganz klar Karstens Ring, ins Dunkel - in mein pechschwarzes Haar, wohin sonst? 
                           ewig zu binden - nichts bindet ewiger, als ein nach nichts 
             schmeckendes, durchgekautes Kaugummi - Tolkien, Sie orakelndes Genie!)





Entsetzt griff ich hinein und tat genau das, was man in so einer Situation vemutlich auf keinen Fall tun sollte. Ich brach in Panik aus. Während ich fluchend an dem weißen Klumpen zerrte, versuchte Karsten mich zu beruhigen. Dabei brach er immer wieder in schallendes Gelächter aus und fing sich einen bitterbösen Blick nach dem anderen von mir ein. Vermutlich war es mehr als nur ein böser Blick. Der Realitität kommt wohl näher, dass ich ihn, zwischen immer wieder aufkommenden Flüchen gegen das Universum, mit Hasstiraden beschimpfte. Als meine Verzweiflung ihren Höhepunkt erreichte, erhob sich Karsten von seinem Platz und verkündete mitleidig lachend, dass er nun aussteigen müsse. Während er die Bahn verließ, rief ich ihm noch einige Beleidigungen hinterher und sackte auf meinem Sitz zusammen wie ein Häufchen Elend. 

Ich war auf dem Weg zu einem Assessment-Center Training, war natürlich wieder einige Minuten zu spät und sah mit meiner Schlägerlippe und dem Kaugummi im Haar aus, als hätte man mich aus der Gosse gezogen. Mein Gesicht wurde heiß, ich kochte vor Wut und mir schossen Tränen in die Augen. Ich muss furchtbar ausgesehen haben. Mittlerweile hatte sich das Kaugummi es richtig gemütlich gemacht und da ich immer wieder hektisch an ihm rumfuchtelte, griff es auch auf die Strähnen über. Schließlich fasste ich mir ein Herz und lief durch den Waggon, um die anderen Fahrgäste nach einer Schere zu fragen. Ich bekam einige mitleidige Blicke, einige tröstende Worte, ein wenig Gelächter, auch ein paar abschätzige Blicke, aber leider keine Schere. Ich war am Arsch. 

Wütend sank ich wieder auf meinem Platz zusammen. Durch den Tränenschleier hindurch sah ich wie sich jemand zu mir setzte und fragte, ob er mir helfen könne. Ich rieb mir die Augen und blickte in ein bärtiges, freundliches Gesicht. Nachdem ich meine Situation geschildert hatte, schmunzelte der junge Mann, blickte dann aber wieder ganz ernst und schien nachzudenken. Schließlich setzte er zu sprechen an: "Mit einem Feuerzeug könntest du dir die Haare...Nein, nein. Doch nicht!" Ich horchte auf. Ein Feuerzeug. Natürlich! Auch, wenn ich keinen Gebrauch mehr davon hatte, wusste ich, dass in meiner Tasche irgendwo ein Feuerzeug liegen musste. Ich kramte es hervor und hielt es meinem Gegenüber vor die Nase. Er protestierte, aber ich ließ nicht locker. Schließlich ließ er sich darauf ein, mir zur Seite zu stehen und mich zu "löschen", wenn das Feuerchen auf den Rest meiner Haare überzugreifen drohte. Nur selber rumfackeln wollte er nicht, die Verantwortung sei ihm zu groß.

Als die Bahn die Uni erreichte, sprang ich gleich aus dem Waggon. Ich wollte den Klumpen so schnell es ging loswerden. Während wir uns eine windgeschützte Stelle suchten, fragte mich der junge Mann noch einmal, ob ich das sicher wolle. Anstelle einer Antwort entzündete ich das Feuerzeug und fasste die Strähne oberhalb des Kaugummis. Knisternd zischte die kleine Flamme an meinen Haaren entlang. Ein grässlicher Gestank setzte ein, aber die Strähne brannte nicht durch. Ich entzündete das Feuerzeug erneut, der junge Mann stand bereit, um mich im Falle des Falles zu "löschen". Dieses Mal zischte es deutlich lauter und die Strähne war durchgebrannt. Ich ließ das Feuerzeug sinken und atmete tief durch. Ich war das beschissene Kaugummi endlich los.

An dieser Stelle 10000 Dank an den charmaten Studenten, der mir in dieser wirklich merkwürdigen Situation ungefragt zur Hilfe kam und mir dann in dem im wahrsten Sinne des Wortes "brenzligen" Moment zur Seite stand. Zu dem Augenblick herrschte in meinem Oberstübchen ein Kopfchaos der Superlative und so konnte ich mir leider nicht den Namen meines Helden merken, wenn er ihn denn überhaupt genannt hat (Ich meine mich daran zu erinnern, wie er nebenbei erwähnte, dass er von der FH komme und sich nun mit Freunden zum Lernen in der Uni-Bibliothek treffe). Wie auch immer - Danke!

Nachdem ich nun vom Kaugummi befreit war, rannte ich Richtung Juridicum. Ich hetzte ins Gebäude und stürmte schon beim dritten Versuch ins richtige Zimmer. Einige meiner Kommilitoninnen blickten auf,  erkannten mich und lächelten mich freundlich an. Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf, entschuldigte mich beim Leiter des A-C's für die Verspätung und nahm neben einer Studentin des höheren Semesters Platz. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Ich atme einige Male tief durch und versuchte dem Herrn, der unbeirrt weiter vortrug, zuzuhören. Nach einer Weile lehnte sich meine Nachbarin zu mir herüber und flüsterte mir etwas ins Ohr: "Total seltsam, ich bilde mir die ganze Zeit ein, dass hier irgendwas verkohlt riecht! Riechst du das auch?"

Ich erstarrte und schluckte schwer. Gleichzeitig merkte ich, wie mir das Blut erneut in den Kopf schoss und mir schrecklich warm wurde. Ich musste antworten. Hirn an Bea, Hirn an Bea! Reaktion! Ich schüttelte langsam den Kopf, sah sie gequält lächelnd an, zuckte mit den Schultern und antwortete: "Nö du, sorry. Ich riech nichts!"




Dienstag, 10. Dezember 2013

Old is Gold

Was Ihr im Folgenden lesen werdet ist eine kleine Anekdote, ein kleines Fettnäpfchen... 
In Euren Augen ist es wohl eher eine großräumige Friteuse, eine zugegebenermaßen außerordentliche Peinlichkeit, aus der ich für mich persönlich eine wahnsinnig wichtige Lehre für mein medial vernetztes Umfeld gezogen hab - Unterschätze niemals einen alten Mann im Clownsjackett!

Die Geschichte trug sich wie folgt zu:

Schauplatz des Geschehens war wieder einmal meine geliebte Rheinbahn. Ich war auf dem Weg zur Uni -verspätet wie eh und je, versteht sich. Dies brachte mir aber den Vorteil, regelmäßig in den Genuss eines sonst nur hart erkämpften Sitzplatzes zu kommen. Ich saß also vollkommen tiefenentspannt auf meinem Platz und überlegte, wie ich mich heute wohl möglichst unauffällig in den Hörsaal schleichen konnte, ohne mich vom mahnenden Blick des Professoren durchbohren zu lassen. Ich saß alleine auf einem Zweiersitz (wahlweise nach Körperbau auch Dreiersitz, also der Reihe, die eigentlich für Mütter mit Kinderwägen oder Behinderte bestimmt ist, die aber gerne auch von Radfahrern genutzt wird und der immer ein anderer Zweier-/Dreiersitz gegenüberliegt). Jedenfalls saß ich nun sehr entspannt da und beobachtete gelangweilt, halb dösend die ein- und aussteigenden Fahrgäste. Wenige Haltestellen bevor ich mein Ziel erreicht hatte, weckte ein besonders schrulliges Pärchen mein Interesse. 

Die Dame und der Herr, die in der Sitzreihe mir gegenüber Platz nahmen, hätten ulkiger nicht aussehen können. Die Dame, mit Sicherheit gute 60, bestach durch knallorangene Gummistiefel und einen Flickenmantel, der tatsächlich aus Topflappen-ähnlichen Flickentüchern zusammengesetzt zu sein schien. Der Mantel bedeckte ihre wuchtigen Beine bis über die Knie. Zwischen den Gummistiefeln und dem Mantel ließ sich ein Streifen einer hellblauen Cordhose erahnen. Die Dame trug eine messingfarbene Brille auf ihrer Nase, mit eng beieinander stehenden, runden Brillengläsern, die für sich genommen, kaum größer waren als eine 1 Euro Münze. Das zarte Brillengestell wurde geradezu malerisch von weißgräulichen, feinen Löckchen umrahmt, die aus einer elegant eingedrehten Hochsteckfrisur fielen. Vollendet wurde diese Erscheinung durch einen kräftigen, violetten Lippenstift, den die außergewöhnliche Dame großzügig auf ihren spitzen Lippen aufgetragen hatte. Es fiel mir verständlicherweise äußerst schwer meinen Blick von dieser regelrechten Erscheinung abzuwenden, aber irgendwann, vermutlich beim Einfahren in eine scharfe Kurve, fiel mein Blick auf den Herrn, mit dem die Dame die Bahn betreten hatte. 

Dieser, ebenfalls im fortgeschrittenen Alter von Mitte bis Ende 60, hatte beim Einsteigen in die Bahn eine Zeitung, zwei Zeitschriften, einen Aktenkoffer und zwei Thermoskannen bei sich. Er trug eine graue, feine Flanellhose und braune ebenso feine Anzugsschuhe. Unter seinem roten, viel zu engen Mantel  (der mittlere Knopf drohte abzureißen) trug er ein Jackett, dass von Clownsgesichtern übersät war und passend dazu eine Krawatte, die von bunten Luftballons geschmückt war. Nichts davon denke ich mir aus, aber wer sich des öfteren in der Düsseldorfer Innenstadt bewegt, wird daran auch keinen Zweifel hegen. 

Der Herr saß vorgebeugt neben seiner Frau, wie ich annahm, und las angestrengt mit zusammengekniffenen Augen seine Zeitung. Die zwei Zeitschriften hatte er umständlich zusammengerollt und in den Zwischenraum von Sitzplatz und seinen Waden gequetscht. Die zwei Thermoskannen platzierte er zwischen seinen breitbeinig aufgestellten Füßen, wo sie während der Fahrt immer wieder gefährlich nah dran waren umzukippen, aber letztendlich doch brav auf ihren Platz zurückpendelten. Den Aktenkoffer hatte der Herr vor sich auf den Kofferboden gestellt, sodass er in regelmäßigen Abständen nach vorne kippte und seine Frau ihn ächzend vorgebeugt wieder aufrichtete. 

Da saß ich also, auf dem Weg zur Uni, und beobachtete ganz fasziniert dieses sonderbare Paar. Was ich als nächstes tat, bereue ich im Nachhinein zutiefst. 

Wie bereits erwähnt, war ich nun mal wieder zu spät. Dementsprechend saßen meine Kommilitonen bereits brav in der Vorlesung oder lagen noch faul im Bett, weil sie sich die weisen Worte des Professoren ersparten. Ich war also auf mich allein gestellt und mir schoss nur dieser eine Gedanke durch den Kopf: "Du musst ein Foto von denen machen!" Ich kramte langsam mein Smartphone aus der Tasche hervor und setzte mich aufrecht hin. Mit der linken Hand richtete ich es auf Schoßhöhe zum mir gegenübersitzende Pärchen und mit der rechten Hand bediente ich geschäftig meinen iPod, um möglichst unauffällig zu sein, wenn ich das Foto schoss. Ich kam mir vor wie ein besonders ausgetüftelter Paparazzo, der gerade dabei war den Moment seines Lebens festzuhalten. Mit geheucheltem Interesse studierte ich die Playlist auf meinem iPod und drückte dabei lächelnd auf den Auslöser.

Ein kurzes, aber gleißend weißes Licht erstrahlte und erhellte für einen Augenblick den dunklen Waggon und meine besonderen Mitfahrer.

War das ein Blitz? Das war ein Blitz. Scheiße.

Vielleicht hatte ja keiner den Blitz bemerkt? Vielleicht kam er ja auch gar nicht von mir?
Vielleicht kam er von den freundlich lächelnden Chinesen, die zwei Sitze entfernt von uns saßen? Die waren schließlich geradezu berühmt berüchtigt dafür Fotos von allem zu knipsen - nichts für ungut! 

Ich starrte immer noch wie besessen auf meinen iPod, scrollte rauf und runter, rauf und runter. Als ich der Ansicht war, genug gescrollt zu haben, hob ich langsam meinen Kopf und versuchte unauffällig einen Blick auf das Pärchen zu werfen. Die Dame war gerade dabei ihr antikes Brillchen zu putzen. Erleichtert atmete ich auf. Dann bemerkte ich jedoch den Herrn. Mit starrem Blick und eiserner Miene sah er mich an. Verdammt. Er hatte es gemerkt, es war tatasächlich mein Blitz. Ich räusperte mich und sah schnell zurück auf meinen iPod. Wenn ich lang genug auf ihm herumdrückte, konnte ich mir vielleicht vormachen, dass meine Blitzerattacke nie stattgefunden hatte. Vielleicht konnte ich so ja auch den Herrn davon überzeugen. Also starrte ich weiter unverändert meinen iPod an und ließ mein Smartphone dabei vorsichtig mit der anderen Hand verschwinden. Aus dem Augenwinkel konnte ich genau sehen, wie mich der Herr weiter hartnäckig beobachtete. 

Es war also wieder so weit. Ich hatte es mal wieder geschafft mit minimalem Aufwand in eine höchst peinliche und unangenehme Situation zu geraten. Hätte sich der Boden unter meinen Füßen eröffnet, ich wäre dankend und freudig in ihm versunken. Mit heißen Ohren und klopfendem Herzen, richtete ich meinen Blick wieder auf. Ich versuchte an dem Pärchen vorbeizuschauen und den Herrn zu ignorieren. Was würde passieren? Würde er mich zurechtweisen oder gar ausschimpfen? Würde er mir eine Szene machen? Konnte ich für sowas angezeigt werden? Urheberrechtsschutz, wie war das noch gleich? Diese und ähnliche Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich erleichtert feststellte, dass ich in wenigen Minuten die Endhaltestelle erreichen würde und dieser wahnsinnig peinlichen Situation entfliehen konnte. Ganz langsam und bedacht rollte ich meine Kopfhörer über den iPod und versuchte dabei möglichst unauffällig zu bleiben und so wenig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen wie nur möglich. 

Aus dem Augenwinkel sah ich wie der Herr nach seinem Aktenkoffer griff. Ähnlich ruhig und bedacht wie ich, öffnete er den Zifferncode und klappte ihn auf seinem Schoß auf. In aller Seelenruhe legte er seiner Frau einige Dokumente in die Hand und holte dann zu meiner Verwunderung ein riesiges Etwas (im Nachhinein bin ich mir sicher es war ein Samsung Galaxy Note) hervor. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er den Display, drückte schließlich entschieden auf ihn und richtete in gleichbleibender Seelenruhe, die Kameralinse auf mich. 



(Der hochbetagte Mann des 21. Jahrhunderts bedient sich nicht mehr des altbewährten 
Klotz-Handys sondern ist längst auf fortgeschrittenere Gerätschaften umgestiegen)


Mit offenem Mund starrte ich das Pärchen an. Die Situation war dermaßen skurril, dass ich nicht wusste wie mir geschah, aber aus reinem Fotoreflex beschloss ich zu lächeln und siehe da, ein heller, gleißender Kamerablitz antwortete mir. Eine bessere, schlagfertigere Antwort, hätte mir dieser hochbetagte Herr wohl nicht bieten können. 

Schwer beeindruckt und noch geblendet vom Blitz, stieg ich hastig aus der Bahn, nickte dem Pärchen einmal verwirrt, aber lächelnd zu und beschloss nie wieder, niemals, jemals unter gar keinen Umständen wieder heimlich ein Foto von jemandem zu machen.

(Das Foto, das bei dieser Aktion entstand, zeigte einen Herrn mit zwei Thermoskannen und einem Aktenkoffer vor den Füßen, der ein Clownsjackett, samt Luftballonkrawatte trug und völlig überrascht von seiner Zeitung aufblickt und in meine blitzende Handykamera schaut. Einige wenige meines Bekanntenkreises durften dieses Kunstwerk betrachten, allerdings werde ich das Bild nicht hier hochladen, auch, wenn es ein ausgezeichneter Schnappschuss ist. Wie gesagt, ich habe hieraus meine Lehre gezogen.)

Dienstag, 3. Dezember 2013

Harmonie zur späten Stunde

Es ist Dienstagabend. Eigentlich sollte ich mittlerweile schon längst Zuhause sein, mich wohlig in meine Bettdecke kuscheln und langsam in tiefe Träume versinken. Aber wie so oft in den vergangenen Tagen, hatte mir mein diabolischer Uni-Stundenplan einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nachdem ich mich durch die üblichen Vorlesungen gekämpft und auch meine Tutorien überstanden hatte, erlaubte ich mir noch den Genuss einer herzlich trockenen Stunde italienischen Rechts. Völlig übermüdet und mit nahezu frittiertem Gehirn war ich im Kampf um den Einstieg in die Bahn chancenlos. 

Nirgendwo sonst zwängen sich Menschen derart ehrgeizig, freiwillig auf engsten Raum, um dort für einige kostbare Minuten bei unmenschlicher Hitze und einer penetranten Mischung aus Männerdeo, teurem Frauenparfum und Schweißgeruch, das Leben der Henne in einer Legebatterie nachzuvollziehen. 


Zu kraftraubend scheint mir dieser aussichtslose Kampf um Sitz- oder Stehplatz, also lasse ich Bahn für Bahn an mir vorbeiziehen. Beim Anblick der zusammengedrängten Menschen in den Waggons überkommt mich gleichermaßen Mitleid, als auch Schadenfreude. Ich erkenne einen meiner Kommilitonen der trotz seiner beachtlichen Größe und Breite gnadenlos gegen die Fensterscheibe der Bahn gedrückt wird und kann mir ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Ich knöpfe meinen Mantel bis obenhin zu, ziehe mir meine Mütze noch tiefer ins Gesicht, tippe abwechselnd mit meiner Schuhspitze und der Schuhsohle gegen den roten Sandstein und freue mich über die mir gebotene Beinfreiheit. Der Blick auf die Anzeigetafel raubt mir augenblicklich die Euphorie. 35 Minuten. 35 Minuten bei sibirischen Wetterverhältnissen. Ich seufze auf und bereue es, mich nicht in das Nahkampfkuscheln der Bahn begeben zu haben. Müde schlendere ich zum Wartehäuschen und setze mich auf die eiskalte Bank. Momente wie diese sind es, in denen ich dankbar mein Smartphone hervorhole und mir die Zeit mit kleinen Spielereien vertreibe. Die Zeit vergeht wie im Fluge und ehe ich meinen fünften Sieg in Folge bei Quizduell belächeln kann, fährt meine Bahn auch schon vor. Ich trotte zur Tür, schleppe mich ächzend die Stufen rauf und lasse mich auf einen freien Sitzplatz plumpsen. Als die Bahn sanft ruckelnd losfährt, kann ich mich kaum mehr wach halten. Mehrere Male werden meine Augen schwer und schließlich nicke ich für einige Minuten ein. 


Als ich die Augen wieder öffne, stelle ich verärgert fest, dass ich meine Haltestelle verpasst hab. Welch schöner Feierabend! Zügig verlasse ich die Bahn und mache mich zu Fuß auf den Heimweg. Glücklicherweise sind es bloß zwei Haltestellen, die ich verschlafen hab. Zitternd nestele ich im Gehen mein Smartphone aus der Manteltasche, um der Dunkelheit zumindest etwas entgegenzusetzen. Just in diesem Moment, als habe er nur darauf gewartet in Anspruch genommen zu werden, blinkt mein Akku warnend auf. „Akku schwach. Ladegerät anschließen!“ Ganz großes Kino. Ich beschleunige meinen Schritt und tippe währenddessen geschäftig auf meinem Smartphone herum. Es sind wirr aneinander gereihte Buchstaben, Nachrichten die nie einen Empfänger beglücken oder belästigen werden, sondern allein meiner Nervenberuhigung dienen. 


Für all Jene, die hier stutzig werden: 


Das stupide Einhämmern auf die Tastatur, hat für mich den gleichen, beruhigenden Charakter, wie ein vorgetäuschtes Telefonat in einer dunklen Gasse. Obgleich sich ein Schwerverbrecher weder durch meine Tipperei, noch durch mein Pseudo-Gespräch tatsächlich aufhalten ließe, gibt mir der Gedanke, zumindest scheinbar unmittelbar mit der mobilen Außenwelt verbunden zu sein, eine selige Sicherheit. So laufe ich also beschwingt weiter, stolpere alle paar Schritte über meine eigenen Füße, schaue immer wieder von meinem Display auf und halte den dunklen Gehweg prüfend im Auge. Als ich wieder auf mein Smartphone blicke, sehe ich nur einen tröstenden Lichtschweif und mein Akku gibt schließlich gänzlich den Geist auf. Schöne Scheiße. Nachdem ich ein paar hundert Meter weit, ungebremst, weiter auf mein runtergefahrenes Smartphone eingetippt hab, beschließe ich den Rest des Weges tapfer zu sein und stecke es seufzend zurück in meine Manteltasche. Jetzt erst fällt mir auf, wie dunkel der Weg ist. Gern wüsste ich, wie spät es tatsächlich ist, aber meine warm eingepackten Hände weigern sich noch einmal aus den Manteltaschen hervorzukommen und so kann ich nur schätzen. Vermutlich kurz nach 22 Uhr. Es schaudert mich. Eigentlich habe ich selten Angst davor alleine Heim zu laufen. Eigentlich nie. Aber heute hat der Weg etwas quälend Langes und Unbehagliches.


Leise summe ich eine vertraute Melodie vor mich hin. Singen soll schließlich beschwingen. Tatsächlich fühle ich mich nach einigen Metern mutiger. Aus meinem Summen bilden sich Worte. Flüsternd stimme ich „My Heart Will Go On“ von Celine Dion an. Im Nachhinein kann ich nicht sagen, warum es genau dieser furchtbare Titel war, für den ich mich entschied, aber in diesem tristen Moment absoluter Einsamkeit schien es mir wohl passend. Ich komme nun mehr richtig in Fahrt. Während ich in eine Seitenstraße abbiege, stimme ich die zweite Strophe an. Von einem Flüsterton kann längst nicht mehr die Rede sein, ich nutze mein volles Lungenvolumen und singe die restliche Furcht weg. Während ich inbrünstig, aber doch bedacht zum heroischen Finale ansetze „Once More..“ ertönt aus dem Gebüsch eine mindestens genauso leidenschaftliche Männerstimme: „.. U Open The Door“ und ergänzt meinen nächtlichen Gesang. Starr vor Schreck bleibe ich abrupt stehen. Was zur Hölle? 


Vor meinen ungläubigen Augen steigt ein Mann mittleren Alters aus dem Gebüsch, zieht seinen Hosenstall zu und legt sich seinen Gürtel an. Ehe ich auf irgendwelche perversen, furchteinflößenden Gedanken kommen kann, wird mir erleichtert klar, dass der Mann gerade seine Blase erleichtert haben muss und es sich hierbei nicht um einen exhibitionistischen Übergriff der besonderen Art handelt. Verschüchtert verstumme ich augenblicklich und der Schrecken weicht einer peinlich berührten Scham. Ich blicke verhohlen auf die seitlich parkenden Autos und laufe langsam weiter. Dem Mann ist die Situation offensichtlich ähnlich unangenehm. Ich beobachte durch die Autoscheiben, wie er etwas orientierungslos herumschlendert. Plötzlich hebt er die Hand und ruft „Sorry! Wollte Sie ja nicht erschrecken, der Refrain kam nur so gut…“ Wenn ich vor Scham rot werden kann, dann bin ich es in diesem Moment. Unsicher drehe ich mich um, presse ein zerknirschtes „Schon gut!“ hervor und biege in einem Mordstempo in die nächste Seitenstraße ab. 


Den Rest des Weges renne ich. Ich renne nicht etwa, weil ich Angst habe - ich renne, weil ich mir davon erhoffe, dass die Situation ein wenig weniger peinlich wird. Als ich keuchend vor meiner Haustür stehe, denke ich mir in alltäglicher Gewohnheit „Einmal blamieren am Tag stärkt den Charakter“ drehe den Schlüssel herum, lache erleichtert und bin endlich angekommen.



(In Titanic-Pose habe ich mich Gott sei Dank nur vor dem geistigen Auge geworfen, 
sonst wäre ich wohl wirklich, wirklich, wirklich vor Scham im Boden versunken...)